Kategorie: Kuhlumne
Muss ich wissen, was genau ich mal werden will?
Eigentlich doch klar: Wir wollen doch alle Tiermediziner:innen werden, richtig? Eine Berufsgruppe, in die wir uns per Definition nach unserem abgeschlossenen Studium in jedem Fall einordnen. Doch die allermeisten von uns wissen es vor dem Studium schon viel genauer: Laut Dissertation der Tierärztin Heike Hesse wollen 96,4 % der Studienanfänger:innen später einmal in die Praxis, davon mit einem Beliebtheitsgrad von 47 – 65 % (abhängig vom Hochschulstandort) in die Kleintierpraxis.[1] Also, was wenn ich es als vermeintlich Einzige:r nicht weiß? Wie überlebe ich die Selbstzweifel in einem Topf mit so vielen zielstrebigen Studierenden, die ganz genau zu wissen scheinen, wofür sie das alles auf sich nehmen? Dieser Frage möchte ich im Folgenden mithilfe meiner Kommilitonin Lisa nachgehen.
Tiermedizin studieren, ohne zu wissen, was man werden will? Wie geht das?
Wir alle haben irgendwann mal nach dem Abi dagestanden, mit dem Zeugnis in der Hand und mussten uns entscheiden. Diejenigen, denen klar war, dass sie praktische Tierärzt:innen werden wollen, haben sich womöglich anhand ihres NCs ausgerechnet, wie ihre Chancen standen, im Zulassungsverfahren der jeweiligen Uni durchzukommen.
Wenn du nun aber zu den anderen 3,6 % gehört hast, wie kamst du dann ausgerechnet auf Tiermedizin?
Vielleicht wusstest du schon vor dem Studium, dass auch noch andere spannende Fachgebiete auf dich warten werden und dich begeistern könnten. Vielleicht aber auch nicht. Denn immerhin machten 13,7 % der Studienanfänger:innen in der Befragung von Heike Hesse – gefragt nach Assoziationen zu Tierärzt:innen in der Industrie – die Angabe „Weiß nicht“. Dieselbe Angabe machten 10,2 % der Studienanfänger:innen, gefragt nach ihren Assoziationen zum öffentlichen Veterinärwesen.[2] Wäre also auch durchaus möglich, dass die grundsätzliche Kenntnis über diese und andere Zweige der Tiermedizin bei den frischgebackenen Studis eher weniger ausgeprägt war.
Meine Kommilitonin Lisa gehört zu den „Unentschlossenen“ und erinnert sich: „Ich habe Tiere immer gerngehabt, wir hatten selbst Tiere, seit ich denken kann mit denen ich sehr gut zurechtkam. Auch geritten bin ich jahrelang und doch lag die Tiermedizin bei mir nicht auf der Hand. Dass ich mit der Nase darauf gestoßen wurde, lag daran, dass ich mich endlich für etwas entscheiden musste.“ Sie ist in einer Großstadt aufgewachsen und ging dort auf ein staatliches Gymnasium. „Mein NC war richtig gut. Aber ich wusste einfach nicht, wie es weitergehen soll, womit genau ich mich nun als nächstes befassen sollte, wo meine Stärken liegen. Damit habe ich mich dann erst richtig befasst.“, erklärt sie weiter. „Ich habe mir schon vorm Abi den Kopf darüber zerbrochen, dann erst mal ein FSJ gemacht. Aber als dann die Notwendigkeit einer Entscheidung immer deutlicher wurde, da konnte ich mich dann drauf einlassen. Als mir dann nach ausgiebiger Analyse klar wurde, dass ich mich besonders für Naturwissenschaften und den Umgang mit Menschen und Tier interessiere, hab‘ ich es dann einfach gemacht, aus Interesse zum Studienfach, um etwas Interessantes zu lernen.“
Zugegeben – damit steht Lisa wohl recht isoliert da. Und doch verbindet sie im Grunde ihrer Entscheidung einiges mit Ihren Kommiliton:innen: Laut der Dissertation von Tierärztin Katja Kostelnik geben 87,3 % der Studierenden „Tierliebe“ und 89,1 % „eigene Haustiere“ als Grund für Ihre Berufswahl an.[3]
In einer weiteren Studie von Johanna Elmer unter Schweizer Studierenden wurden darüber hinaus „Interessenstypen“ unter den Studierenden ermittelt. Demnach überwiegen die sozial-Interessierten (33,6 %) gegenüber den intellektuell-forschend-Interessierten (24,59 %).[4] In beide Interessensspektren reiht sich Lisa prima ein. „Und trotzdem fühle ich mich manchmal so, als würde ich jemandem den Studienplatz wegnehmen. Nicht zuletzt, weil mir auch schon gesagt wurde, ich würde das alles weniger wollen, weil ich nicht unbedingt meinen Kindheitstraum erfülle.“
Der große Vorteil
Klingt krass, oder? Aber ich kann trotzdem auch nachvollziehen, dass es echt ernüchternd sein kann, wenn die 1,0er-Abiturient:innen einfach so ins Studium spazieren, ohne sich über die anschließende Berufswahl im klaren zu sein, während du dir vielleicht mühsam deine Wartesemester zusammengespart hattest. Ein geringerer Andrang auf das Studium, mit weniger Personen, die „es einfach mal ausprobieren wollen“ hätte dir sicherlich eher einen dieser seltenen Studienplätze erbracht.
Und dennoch hat Lisa einen entscheidenden Vorteil für die tiermedizinische Gesellschaft: Sie ist von Anfang an offen für das breite Spektrum an Tätigkeitsfeldern und kann auch nicht an „geplatzten Träumen“ scheitern. Das Phänomen des Studienabbruchs ist nämlich weniger ein Problem von wenig konkreten Wünschen in Bezug auf den späteren Beruf als vielmehr eines der falschen Erwartungen. Laut Bildungsforscher Ulrich Heublein et al machen über die Hälfte aller Studienabbrecher:innen falsche Vorstellungen, sowohl vom Studium im Allgemeinen, als auch vom Studienfach und hinsichtlich der eigenen Person für ihren Abbruch verantwortlich. Besonders betroffen sind hierbei vor allem naturwissenschaftliche Studienfächer.[5] Fairerweise nennt er jedoch auch Abbruchgründe, die für „Kindheitstraumerfüller:innen“ wie „Spätbekehrte“ gleichermaßen gelten: unbewältigte Leistungsanforderungen.
Leider gibt es keine Studien zum Thema Studienabbruch speziell auf die Tiermedizin bezogen. Dennoch wage ich diese Schlüsse aus der allgemeinen Datenlage zu ziehen und folgende Frage aufzuwerfen: Ist es nicht viel enttäuschender, wenn ich etwas immer wollte und es sich dann als ganz anders entpuppt, als ich es mir vorgestellt habe? Zumindest was meine und Lisas subjektiven Erfahrungen betrifft können wir diese Mutmaßung bestätigen. Im ersten Semester hörten bereits die meisten unserer Mitstudierenden auf, nicht im zweiten, dritten Semester oder noch später. Es waren die ersten Wochen, die unseren Kommiliton:innen schnell offenbarten, ob sie sich richtig entschieden hatten für dieses Studium. Und die uns bekannten Abrecher:innen wollten alle seit sie denken konnten praktische Tiermediziner:in werden. Aber wie gesagt – nur subjektive Wahrnehmungen und versteht mich nicht falsch, ein Studium abzubrechen ist keine Schande und kann goldrichtig sein.
Dennoch: Lisa bestätigt meine Theorie. Ganz im Gegensatz zu den meisten unserer Freund:innen, die fest fokussiert auf ihren Berufswunsch durchs Studium gehen, lässt sie im ersten Semester keine Stunde der Vorlesungsreihe „Berufsfelderkundungen“ aus und nimmt an immer wieder grundlegend anders orientierten Wahlpflichtveranstaltung aus dem tiermedizinischen Spektrum teil. „Ich denke ich habe die Augen frei und weniger oft die Scheuklappen auf.“, beschreibt sie sich selbst.
Der große Nachteil
„Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich nicht Bio mache, vielleicht auf Lehramt studiere.“, gibt Lisa zu bedenken. „Ich denke ich wäre auch in einem anderen Studienfach glücklich geworden, hätte womöglich weniger gelitten.“ Mit letzterem hat sie vermutlich nicht unrecht. Wir alle wissen, die Tiermedizin, aber auch schon der tiermedizinische Studiengang ist risikoreich, vor allem auch für unsere mentale Gesundheit. Internationale und mittlerweile auch nationale Studien belegen ein doppelt so hohes Suizidrisiko für Tiermediziner:innen im Vergleich zu Humanmediziner:innen und ein viermal höheres als die Allgemeinbevölkerung.[6] Wer sich durch dieses Studium beißt, der hat es sicherlich leichter, wenn die Motivation dafür sitzt. „Ich will das werden – also muss ich da durch.“ Das fehlt Lisa. Und so läuft sie natürlich Gefahr, eher zu den Studierenden zu gehören, die unter der bereits genannten mangelnden Studienmotivation das Studium an den Nagel hängen. Diesen Studierenden fehlt laut Dr. Heublein die Identifikation mit dem Studienfach und den daraus ergebenden beruflichen Möglichkeiten.[7]
Wenn dann noch ein solcher Druck auf die Studierenden wirkt, wie im Tiermedizinstudium, könnte dies den noch unentschlossenen Studierenden den Stoß in Richtung Abbruch versetzen, bevor sie überhaupt alle Arbeitsbereiche der Tiermedizin, die unglaublich viele unterschiedliche Aspekte abdecken, annähernd kennenlernen konnten. Studierende mit einem klaren Ziel vor Augen haben es an dieser Stelle vielleicht leichter – leichter standzuhalten und ihr Glück nicht in anderen Studiengängen zu suchen.
Andererseits: Sollte das der Anspruch sein? Um jeden Preis Standhalten wollen? Der Preis, den zahlt die Psyche. Es ist zwar ein anderes Thema, dass ich nun anschneide, aber die zukünftige Tiermediziner:innenschaft hat ein Problem, das ihr auch im Studium bereits als notwendig verkauft wird. Ich überspitze:
Wenn du das werden willst, dann musst du da durch. Entscheide dich: Mental Health oder Tiermediziner:in werden.
Wenn ich mich also für Mental Health entscheide, dann will ich keine Tiermediziner:in werden?
Zum Glück findet hier langsam, aber sicher ein Umdenken statt. Und ich bin zuversichtlich, dass dies auch Chancen birgt, alle Tiermedizinstudierenden langfristig vermehrt und länger im tiermedizinischen Sektor in seinem ganzen breiten Spektrum zu interessieren und zu halten – die „Kindheitstraumerfüller:innen“ sowie „Spätbekehrten“.
Viele Wege führen nach Rom.
Wie ist das nun, muss ich wissen, was genau ich werden will? „Nein.“, ist Lisas klare Antwort. „Zumindest bis zu einem gewissen Zeitpunkt. Ich bin nun im praktischen Jahr und finde jedes einzelne Praktikum bisher super spannend. Ich mache ganz unterschiedliche Sachen, habe mir bereits eine Kleintierklinik und den Schlachthof angeschaut. Bald bin ich in einer Uniklinik für Großtiere und dann im Amt. Ich freue mich darauf schon total und auch auf danach, da mache ich ein langes Praktikum in der Forschung.“
Ich merke ihr an, dass sie noch immer nicht so richtig weiß, worauf sie den Schwerpunkt legen soll. Darauf angesprochen lacht sie und sagt: „Ja, stimmt schon. Ich werde mich halt spätestens nach dem Studium wieder fragen müssen, was mich interessiert und womit genau ich mich nun als nächstes befassen sollte, wo meine Stärken liegen. Aber damit bin ich doch bisher auch gut gefahren, oder? Außerdem lerne ich doch jetzt erst wirklich kennen, was die einzelnen Berufsfelder praktisch bedeuten. Und wenn wir uns am Ende darauf einigen, dass wir beide Tiermedizinerinnen werden wollen, dann wissen wir es doch, was wir werden wollen.“
Von Sarah Heynen
Quellen
[1] Hesse, H. (2013). Wahrnehmung der Veterinärmedizin: Vorstellung von Studienanfängern der Tiermedizin im Vergleich zur inneren Wahrnehmung von Berufsträgern. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/1549/Hesse_online.pdf?sequence=1&isAllowed=y
[2] Hesse, H. (2013). Wahrnehmung der Veterinärmedizin: Vorstellung von Studienanfängern der Tiermedizin im Vergleich zur inneren Wahrnehmung von Berufsträgern. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/1549/Hesse_online.pdf?sequence=1&isAllowed=y
[3] Kostelnik, K. (2010). Der Mangel an tierärztlichem Mangel in der Nutztiermedizin. https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/6536/Kostelnik.pdf
[4] Elmer, J. (2009). Wissen um Realität im veterinärmedizinischen Beruf – Diskrepanz der Vorstellungen der Studenten und der Berufsrealität.
[5] Heublein, U. et al. (2017). Zwischen Studienerwartungen und Studienwirklichkeit. Ursachen des Studienabbruchs, beruflicher Verbleib der Studienabbrecherinnen und Studienabbrecher und Entwicklung der Studienabbruchquote an deutschen Hochschulen. https://www.dzhw.eu/pdf/pub_fh/fh-201701.pdf
[6] Wiemann, R. (2021). Suizide bei Tierärzt*innen. Hilflose Helfende. https://taz.de/Suizide-bei-Tieraerztinnen/!5804411/
[7] Heublein, U. et al. (2017). Zwischen Studienerwartungen und Studienwirklichkeit. Ursachen des Studienabbruchs, beruflicher Verbleib der Studienabbrecherinnen und Studienabbrecher und Entwicklung der Studienabbruchquote an deutschen Hochschulen. https://www.dzhw.eu/pdf/pub_fh/fh-201701.pdf